Von Katern und Schüsseln

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Der Kater lustwandelte an einem frühen Morgen bereits seit vielen Stunden ohne bestimmtes Ziel in den Gemächern, als er unverhofft einer Schüssel begegnete. Die Schüssel ihrerseits war bereits recht betagt und konnte weder anderen noch sich selbst über den Sinn ihrer Existenz eine Auskunft geben. Dies grämte sie und füllte ihr Herz mit Unzufriedenheit. Zeit ihres Lebens hatte sie den verschiedensten Salaten des Reiches gedient, sie beschützt, umsorgt und vor dem gefürchteten Elend des Welkens bewahrt. Doch nun hatte man sich ihrer entledigt, hatte ihr Senilität und ein unansehnliches Äußeres bescheinigt. Das schmerzte. Der Kater betrachtete sie. Zunächst gelangweilt. Später nachdenklich und mit einem gewissen Ernst. Seine blütenweißen Schnurrhaare, die seit den jüngsten katerlichen Ausflügen ein wenig an Fülle eingebüßt hatten, ließen den Betrachter der Szene ein kurzes wohlwollendes Lächeln erahnen. „Du bist kein nutzloses Ding. Ich werde dir neue Jugend schenken, sofern du dich in meinen Dienst stellst.“ Seine Worte rührten die Schüssel. Ihre Antwort kam ohne Zögern. Fortan war das einstige Gefäß ein treuer Begleiter des Katers. Wenn ihm der Sinn danach stand, etwas zu schieben – war sie zur Stelle. Beliebte es ihm, Geräusch zu gestalten – war sie zur Stelle. Eine exotische Lauftrainingstechnik der Vorderglieder (der Kater hatte sie einst auf einer seiner Fernreisen von einem Weisen erlernt) – sie assistierte, als sei es schon immer ihre Aufgabe gewesen.

Es war ein Sonntag, als der Kater an ihrer Zuverlässigkeit keinerlei Zweifel mehr hegte. Sie hatte ihm in einer kräftezehrenden Schlacht gegen einen ihm feindlich gesonnenen Kautschukfrosch mit bemerkenswerter Tapferkeit zur Seite gestanden. So vertraute er ihr von nun an das Kostbarste im Dasein der Katzenartigen an. Jenes Gut, um welches alle anderen Wesen die Katzenartigen beneiden. Den Genuss des Schlafes. „Kater, du irrst dich in ihr. Sie ist nicht fähig, deinen Schlaf zu hüten. Sie ist ein Salatgefäß und der Aufgabe, die du ihr zuteil werden lässt, nicht würdig“, sprachen die Menschen. Er hob den Kopf. In einer geschmeidigen Bewegung. Ohne Hast. Sein Blick enthielt zu acht Zehnteln gütiges Mitleid, der Rest gehörte dem Spott. „Ihr Menschen seid unwissend. Ihr wisst nichts über den Schlaf, nichts über den Genuss. Nichts über Eleganz, Mut, über die Kunst, das Ohr eines Gegners zu spalten, nichts über Mäuse, nichts über die Faszination der Stubenfliege, das Hervorwürgen von Speiseresten, effektvolles Erscheinen und plötzliches Verschwinden, nichts über…“ – der Kater verlor sich ein wenig in seiner Aufzählung, hielt jedoch nach einer längeren Weile inne. Die Menschen hatten seiner Rede geduldig Gehör geschenkt und nickten einsichtig. Wie sie es immer taten. Der Kater hatte Recht. Die Schüssel enttäuschte ihn nicht. Sie umfing den Schlaf des Katzenartigen, welchem sie ihre uneingeschränkte Liebe schenkte, als sei der Schlaf ein Teil ihrer selbst.

An einem nebligen Dienstag kehrte der Kater in einem besorgniserregenden Zustand von einem Streifzug zurück. Silbrigmattes Gespinst fand sich in den Haarbüscheln, die seine Ohrspitzen zieren. Tautropfen der vergangenen Nacht hatten sich in seinem dichten Pelz verfangen und diesen schrecklich zugerichtet. Nach außen hin demonstrierte der Kater Überlegenheit und trat seiner Verfassung mit bewundernswerter Gleichgültigkeit entgegen. Seine wahren Gedanken teilte er nicht mit. Es herrschte Aufruhr unter den Beobachtern – der Kater war nass. Der Schüssel brachte man verstohlene Blicke entgegen. Ihr Äußeres glatt. Kalt. Es fehlte ihr an Textil. Doch der Katzenartige schritt in zielstrebiger Loyalität auf seine Verbündete zu. „Bringt ein Handtuch herbei! Verliert keine Zeit!“ Man brachte das rote. Auch diese Prüfung bestand die Schüssel. Die Gesundheit des Katers nahm keinen Schaden. Am Mittag des darauffolgenden Tages zollte der Kater den Fähigkeiten der Schüssel erneut Respekt und gestattete ihr von nun an, auch über den Schlaf seiner Gefährtin zu wachen.

Der Schüssel aber gehen seit diesem Tag die Plaudereien über den Sinn ihrer Existenz wieder mühelos über die Lippen. Die Zufriedenheit ist in ihr Herz zurückgekehrt und wer den Grund ihres Frohsinns zu kennen wünscht, dem antwortet sie mit leiser aber sicherer Stimme: „Es gehört zu den guten Dingen auf dieser Welt, einem Kater Gesellschaft zu leisten.“

Constanze Haag